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Sich einsam fühlen, Gemeinschaft und Liebe finden

Eine 3-köpfige Familie steht auf der Wiese. Alle tragen weiße Blusen und Hemden. Der Mann steht in der Mitte. Er hat seine Arme und die Frau und den jungen Mann gelegt. Alle drei lächeln.

Nejla Yoloğlus Sohn heißt Ferhat. Er hat Trisomie 21. Sie erzählt, welche Unterstützungs·angebote sie genutzt hat. Und sie erklärt uns, warum sie bis heute selbst Angebote zur Selbsthilfe organisiert. Wir sprechen auch über Selbstständigkeit und Liebe.


Nejla Yoloğlu, 55 Jahre
Ekrem Yoloğlu, 58 Jahre
Sohn Ferhat, 34 Jahre

Nejla, wie war es als dein Sohn Ferhat ge­boren wurde?

Ferhat wurde mit Trisomie 21 geboren.

Er hatte mehrere Herzfehler.

Als er 6 Monate alt war, wurde er operiert.

Da bekam er einen Herz·schrittmacher.

Mittlerweile hat er seinen 7. Herz·schrittmacher.

Bis er 3 Jahre alt war, lag er 29 Mal im Krankenhaus.

Er hatte ständig schwere Lungen·entzündungen.

Oft ging es um Leben und Tod.

Das Schlimmste war: Ich konnte meinem Kind nicht helfen.

Darüber war ich sehr traurig.

Ich weinte viel.

Zwar hatte ich meine Familie und enge Freunde.

Aber ich fühlte mich nicht verstanden.

Meine Sorgen und Ängste wurden nicht ernst genommen.

Zu meinen Sohn Ferhat habe ich immer gesagt:

Das schaffen wir.

Wir zeigen es denen, die nicht an uns glauben.

Er ist ein Überlebens·künstler.

Wir haben uns gegenseitig viel Kraft gegeben.

Gab es damals Unterstützungs·angebote für euch?

Kurz nach der Geburt suchte ich Hilfe bei einem Verein.

Dort waren viele Mütter, die ein Kind mit Behinderung haben.

Zum 1. Mal fühlte ich mich verstanden und ernst genommen.

Ich suchte nach Informationen.

Ich wollte unbedingt mehr wissen.

Zum Beispiel wollte ich wissen, wie sich Ferhat entwickeln kann.

Welche Rechte habe ich?

Wie kann ich mein Kind unterstützen?

In dem Verein lernte ich:

Die Behinderung meines Sohnes kann ich nicht ändern.

Aber mit viel Liebe, Geduld und Wissen kann ich mit ihm ein glückliches Leben führen.

Ganz wichtig war auch, seine Behinderung anzunehmen.

All das gab mir Selbst·bewusstsein.

Ich konnte meine Bedürfnisse besser einschätzen.

Und ich konnte auf die Bedürfnisse von meinem Sohn besser eingehen.

In dem Verein waren fast nur deutsche Familien.

Nach einiger Zeit habe ich dann selbst Angebote organisiert.

Die richteten sich an türkische Mütter.

Ich hatte den Wunsch, diesen Müttern einen Weg zu zeigen.

Sie sollten sich nicht länger allein fühlen.

Das mache ich bis heute.

Die Mutter sitzt auf einer Steinmauer. Sohn und Mann stehen links und rechts von ihr. Sie hat ihre Arme über die Schultern der beiden gelegt. Die beiden lehnen sich an die Mauer und zu ihr. Alle lächeln.
Nejla Yoloğlu: Die Behinderung meines Sohnes kann ich nicht ändern. Aber mit viel Liebe, Geduld und Wissen kann ich mit ihm ein glückliches Leben führen. Ganz wichtig war auch, seine Behinderung anzunehmen.

Was war dir bei Ferhats Erziehung besonders wichtig?

Mir ist wichtig, dass er alltägliche Dinge selbstständig erledigen kann.

Zum Beispiel soll er sich selbst anziehen.

Oder er soll den Tisch decken.

Diese kleinen Dinge im Alltag geben ihm Selbst·bewusstsein.

Ich erinnere mich noch genau:

Ferhat fragte mich mit leuchtenden Augen,

ob er allein mit der U-Bahn zur Arbeit fahren darf.

Er hatte den Weg bereits trainiert.

Trotz­dem war es für mich eine Herausforderung.

Wenn nicht jetzt, wann dann?

So dachte ich und ließ ihn gehen.

Seitdem fährt Ferhat allein zur Arbeit.

Und ich bin sehr stolz auf ihn.

Wie bist du bei der Erziehung mit Themen wie Liebe und Partner­schaft umgegangen?

Das war kein Tabu.

Alle Menschen haben das Recht auf Liebe.

Auch auf Partnerschaft und Sexualität.

Aber für viele ist Sexualität mit Scham verbunden.

Ich finde es wichtig, die Bedürfnisse meines Sohnes wahrzunehmen.

Ich will ihn unterstützen.

Es gehört zu einem selbstbestimmten Leben, sich selbst zu erfahren.

Es ist wichtig, sich selbst zu akzeptieren.

Ich zeige Ferhat Möglichkeiten.

Zum Beispiel gibt es spezielle Beratungs·stellen.

Die Sprechstunden dort sind für Menschen mit Behinderung.

Da geht es um Partnerschaft und Sexualität.

Sie klären auf und beraten.

Mein Sohn war mit seinem Einzelfall·helfer da.

Es hat ihm geholfen, sich selbst besser kennenzulernen.

Es freut mich, Ferhat glücklich zu sehen.

Ich stehe immer hinter ihm.

Recht auf Liebe und Partnerschaft

Jeder Mensch hat das Recht auf Partnerschaft und Sexualität.

Menschen mit Behinderung müssen ihren Körper kennenlernen.

Es ist wichtig, dass sie ihre Bedürfnisse kennen.

Und dass sie ihre Gefühle verstehen.

Nur dann können sie lernen, für sich selbst einzustehen.

Und sie trauen sich Nein zu sagen.

Aufklärung ist ein guter Schutz vor Gewalt.


Zum Thema Liebe und Sexualität gibt es viele Informationen.

Einige Informationen sind in Leichter Sprache.

Außerdem gibt es Beratungs·stellen.

Und ­es gibt extra Partner·vermittlungs·stellen.

Die unterstützen Menschen mit Behinderung dabei,

eine Partnerin oder einen Partner zu finden.

Hier finden Sie weitere Informationen

Pro Familia berät bundes·weit zu Partnerschaft, Sexualität und Verhütung.

Eine Beratungs·stelle in Ihrer Nähe finden Sie unter:

profamilia.de


Das Hilfe·telefon Gewalt gegen Frauen ist ein Beratungs·angebot für Frauen.

Es gilt in ganz Deutschland.

24 Stunden lang ist eine Person für Sie da:

Telefon 116 016.

Hier bekommen Frauen Hilfe, die Gewalt erlebt haben oder erleben.

Auch Angehörige können sich beraten lassen.

Oder Freunde und Freundinnen von betroffenen Frauen.

Das gilt auch für Fachkräfte.

Und für Menschen aus allen Ländern.

Egal, ob mit oder ohne Behinderung.

Alle Anrufe sind kostenfrei.

Niemand muss seinen Namen sagen.